2004 Laudatio
Eröffnung der Ausstellung

Bernard Boissel
14. Oktober 2004 im Finanzgericht München

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Am Anfang seiner Überlegungen stand nicht der Wille zur Ordnung,
sondern die Entdeckung der Unordnung“.
Dieser Satz bezieht sich nicht etwa auf einen Chaosforscher der Jetztzeit,
sondern auf Charles Darwin (1809 - 1882),
den Begründer der modernen Evolutionstheorie,
die nach wie vor im Mittelpunkt der Biologie steht.
Er bezieht sich also auf den Mann,
der für die Entwicklung von Lebewesen eine Ordnung gefunden hat,
sich aber dennoch immer bewusst war,
dass Zufall und Unordnung Eigenarten alles Lebendigen sind.
Im Klappentext seines grundlegenden Werks über die „Entstehung der Arten“ schrieb er:
 „Doch muss ich hier bemerken, dass ich nicht der Meinung bin,
dass der Prozess der Evolution jemals so regelmäßig und beständig vor sich gehe,
wie er im Diagramm dargestellt ist,
obwohl er auch da schon etwas unregelmäßig erscheint.“
Das brachte ihm den Spott seiner Zeitgenossen ein,
die seine Theorie als „law of the higgledy-piggledy“,
also als Gesetz des kunterbunten Durcheinanders bezeichneten.
Sie wollten nicht begreifen, dass Begriffe wie Ordnung,
Entwicklung und Form nichts Absolutes sind,
und dass das Fehlen von erkennbarer,
konsequent durchgeführter
und eingehaltener Ordnung und Form nicht einfach mit Chaos gleichzusetzen ist.
 
„The law of the higgeldy-piggeldy“
könnte man heute durchaus auch auf die aktuelle Kunst anwenden,
ohne damit etwas Negatives zu meinen. Ganz im Gegenteil.
Man würde dann nur dasselbe machen
wie Jahrhunderte vorher mit den Begriffen Gotik oder Barock,
die eigentlich auch als Schimpfwörter gedacht waren,
wobei Barock sogar die Bedeutung regelwidrig hatte.
Aber im Gegensatz zum Barock, in dem strenge Gesetze und Richtlinien herrschten,
gilt heute das berühmte anything goes, also higgeldy-piggledy in der gesamten Kunst.
Ein chaotischer Zustand ist damit aber keinesfalls gemeint.
Schließlich ist die heutige Kunst
weder formlos noch mangelt es ihr grundsätzlich an Ordnung.
Sie hat vielmehr ihre eigene Ordnung
oder noch besser unterschiedliche individuelle Ordnungen,
denn sie lebt von ihrer formalen Vielfalt. 

Wenn wir jetzt etwas zurückblicken in das vergangene Jahrhundert,
in dem der Maler Bernard Boissel geboren wurde, da entdecken wir eine Stilart,
in deren Namen schon die Verneinung jeder normativen Form steckt, das Informel,
wie man die europäische Variante des abstrakten Expressionismus nennt.
Der Begriff Informel geht auf den Maler Michel Tapié zurück,
der von der „Bedeutsamkeit des Form(en)losen“ in seiner Malerei spricht,
womit er sich gegen die geometrische Abstraktion abgrenzen wollte.
In der informellen Kunst gibt es keine Kompositionsgesetze,
keine Proportionsbeziehungen, keine strengen Formbegrenzungen
und keine perspektivische Raumkonstruktion.
Somit ist sie zwar keine formal geordnete, aber dennoch keine formlose Kunst.
Sie gleicht damit der Entwicklung von Lebewesen,
das heißt, sie folgt ihren eigenen Gesetzen, und weil es keine Norm gibt,
kommen auch Normabweichungen nicht vor. Es gibt nur Farbgesetze,
die vom Künstler individuell ausgelegt werden.
Bei dieser Voraussetzung ist es kein Wunder,
dass die informelle Kunst alles andere als ein einheitliches Gesicht hat.
Besonders ihre formale Offenheit bietet sich auch späteren Generationen
immer wieder als Anknüpfungspunkt für eigene Vorstellungen und Entwicklungen an.
 
Insoweit hat auch der Maler Bernard Boissel hier seine Wurzeln
oder wie er es selbst ausdrückt,
lehnt er sich mehr unbewusst als bewusst an die informelle Kunst an.
Seine Entscheidung für seine Art zu malen,
entspringt der Erkenntnis, dass wir in einem abstrakten Zeitalter leben,
besonders was die Kommunikation angeht.
Wir sind es gewohnt miteinander zu sprechen,
ohne dass der Gesprächspartner persönlich zugegen ist.
Wir telefonieren mit New York,
tauschen E-Mails innerhalb weniger Sekunden mit Australien
und verschicken sogar Bilder in kürzester Zeit weltweit.
Die körperliche Anwesenheit ist unwichtig geworden,
ebenso wie wir das, was wir schwarz auf weiß besitzen wollen,
nicht mehr nach Hause tragen müssen.
Die elektronische Botschaft hat den schwerfälligen Körper,
selbst wenn er die schnellsten Überschallflugzeuge benutzt, längst überholt.

Wenn wir uns hier in der Ausstellung umsehen,
finden wir konsequenterweise keine Figur mehr,
keinen Körper, keinen Gegenstand, überhaupt keine Nachbildung
oder Abbildung, nur Farbstriche, Farbflecken, Farbspritzer,
die sich zu mehr oder weniger losen oder dichten Netzwerken zusammenschließen.
Wir finden Überlagerungen von Farben
und die Vereinzelung im weißen Feld, Kratzspuren und sogar Schnitte.
Aber wir finden keine ablesbaren Bedeutungen,
seien sie symbolischer oder metaphorischer Art.
Alle Striche, Flecken, Spritzer,
Kratzer und Schnitte erhalten ihre Bedeutung nur aus dem Bildzusammenhang selbst. 
Allein auf ein Blatt oder ein Stück Leinwand gesetzt, wären sie nichts.
Weder ihre Form noch Farbe würde beachtet werden. 
Aber nähmen wir nur einen Strich oder Flecken aus einem Bild heraus,
würde etwas fehlen.
Der Maler Ingres hat das für die Zeichnung einmal so ausgedrückt:
Sie “sei wie ein Korb, aus dem man keine Weidenrute herauslösen könne,
ohne ein Loch zu machen.“
Dieser Satz gilt im Werk von Bernard Boissel mit der Einschränkung,
dass in den frühen überaus dicht bemalten Leinwänden
ein einzelner Farbpunkt oder Farbstrich nicht die Bedeutung hat wie in den späteren.
Aber das einst dicht gefügte Farbfeld hat sich im Laufe der Zeit immer weiter gelichtet.
Je reduzierter aber die Mittel der Bildgestaltung wurden,
umso größer wurde die Bedeutung des einzelnen Strichs,
Fleckens oder der einzelnen Pinselspur. Das bedeutet aber auch,
dass die wachsende Ökonomie der Mittel,
eine wachsende Herausforderung an den Künstler darstellt.
Korrekturen sind nicht mehr möglich.
Damit wird die Anfangsschwelle besonders hoch angesetzt.
Ein Künstler, der sich keine vorbereitenden Skizzen macht,
weil er sich ganz bewusst dem Augenblick ausliefert,
braucht einen hohen Konzentrationsgrad zum Arbeiten.
Der Vorteil ist,
er kann den Zufall ausnutzen, sich sozusagen vom Bild überraschen lassen.
Diese Zwiesprache mit dem werdenden Bild ist wesentlicher Teil der Arbeit von Boissel.
Man könnte fragen, warum ein Maler so stark der Reduktion huldigt?
Für Boissel steht dahinter einmal die Entdeckung, dass im Immer weniger,
immer mehr drinsteckt,
das heißt, dass jeder Pinselzug ein so komplexes Geschehen darstellt, dass er in seiner Bedeutung auch wert ist,
festgehalten zu werden. Aber es steht dahinter, so meine ich, noch eine andere Erkenntnis und Absicht.
Die tänzerische Leichtigkeit der Farbspuren, die wir hier in den neueren Bilder finden,
und die sich so selbstverständlich mit den fliegenden,
tänzerischen Formen der Arbeit von Nele Ströbel verbinden,
ist nur auf der weißen Grundierung selbst zu erreichen.
Der schwingende Rhythmus der Farbbewegung braucht den weißen Grund.
Schließlich werden hier die Farben nicht dick und schwer aufgetragen,
sondern fast durchscheinend,
so dass teilweise nur noch Punkte übrigbleiben wie bei der Milchstraße im Sternenhimmel.
Die Farbe schwebt über dem Bildgrund
und ist durch die starke Lichtreflexion der weißen Grundierung doch Teil des Grundes.
So entsteht durch das Licht Raum.
Der weiße Grund wird so zum Bildraum, in dem die Farbe agieren kann.
Deshalb wird er auch hin und wieder aufgebrochen, aufgeschnitten,
freigekratzt oder durch  transparente Folien ersetzt.
Das Abschließende der weißen Fläche wird somit aufgehoben;
sie wird zur Membran und für die Wirkungen der Farbe durchlässig.
Wie groß das Interesse von Bernard Boissel an diesem Durchscheinen ist,
das ja nichts anderes als eine Öffnung des Bildraumes
in einen anderen imaginären oder real existierenden Raum darstellt,
zeigt die Behandlung seiner Arbeitsfolien,
mit denen er seinen Arbeitsplatz im Atelier umgibt,
um den übrigen Raum vor den Farbspritzern zu schützen.
Boissel  bewahrt diese Folien,
sobald er sie als farbgesättigt ansieht, als Bilder, die der Zufall schuf, auf.
Dieses Ineinanderübergehen von unterschiedlichen Räumen,
die gleichzeitig sichtbar oder auch nur zu ahnen sind,
ist durchaus mit der gleichzeitigen Gegenwärtigkeit von Realität
und Virtualität zu vergleichen,
an die wir uns in unserer medial bestimmten Welt schon lange gewöhnt haben.
Wir sind zuhause, sitzen bequem im Sessel
und nehmen gleichzeitig Teil am weltweiten Geschehen. 
Die Trennungen werden immer unschärfer
und die Verwechselung von Realität und Virtualität immer gefährlicher.

Damit ist jetzt doch so etwas wie eine symbolische Deutung in meine Rede gekommen.
Die Freiheit der einzelnen Farbspur bleibt davon aber unangetastet.
Der Vergleich ist ein Gedanke oder eine Assoziation, wie sie jede Kunst,
sogar die streng konkrete oder minimalistische hervorruft,
obwohl deren doch Gesetz lautet: das Bild ist,
was es ist, eine Ordnung der Farbe auf der Fläche.
Aber, es sind ja gerade die Bilder, die in unserem Kopf entstehen,
die für uns die Kunst so spannend machen. 

© Dr. Hanne Weskott