Einatmen - Ausatmen

Laudatio für Bernard Boissel von Andreas Kühne im Gasteig München, Foyer,
am 21. Februar 2002

Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Bernard Boissel!

Wer mich und meine gelegentlichen kunstkritischen Arbeiten kennt,
wird wissen, dass ich nicht zu den schnellen Etikettenaufklebern gehöre.
Dennoch - da geht es Ihnen wahrscheinlich ebenso wie mir -
empfinde ich eine gewisse Verlegenheit gegenüber Werken,
die man nicht unmittelbar einer bestimmten Richtung, einer Tradition,
einem Kontext zuordnen kann.

Es ist uns ganz recht, wenn man sagen kann, das hat er von dem,
und dieses Element in einem Bild geht auf jenes zurück.
Ich will nun keineswegs behaupten,
dass die Bilderwelt von Bernard Boissel singulär dastünde
und keine Parallelen in der bildenden Kunst der letzten 50 Jahre besitzen würde.
Mit einer gewissen Kenntnis der französischen Malerei aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg
werden Sie unschwer gewisse Parallelen entdecken.
Aber ich betone das Adjektiv gewisse.
Bei Jean Fautrier ebenso wie bei André Masson und bei Henri Michaux.
Besonders zu den Papierarbeiten der genannten Künstler,
die in Deutschland eigentlich nie richtig populär waren
und heute einem mehr oder weniger abgeschlossenen Kapitel der Kunstgeschichte angehören,
lassen sich Verbindungslinien ziehen,
ohne dem Boisselschen Werk interpretatorische Gewalt anzutun.
Tatsächlich ist es sicher nicht falsch zu behaupten,
dass die Bilder und Papierarbeiten von Bernard Boissel
in einem Kontext zu einer spezifisch französischen Kunsttradition zu sehen sind.
Dies keineswegs nur deshalb, weil der Künstler, weil Bernard Boissel,
französischer Herkunft ist.
In der französischen Kunst besitzt seine Malerei ihre Wurzeln und ihr Fundament.
Was aber das Besondere und das Unverwechselbare seiner Kunst ausmacht,
das wollen wir am besten gemeinsam versuchen, sehend herauszufinden.
Die Bezugsgrößen werden ja heute in der bildenden Kunst wesentlich in uns selbst gebildet.
Das Eigentümliche ist, dass sich derjenige, der über Kunst redet, und derjenige,
der sich ihr nur gelegentlich zuwendet, weitgehend in der gleichen Position befinden.

Bernard Boissel wurde in Neuilly sur Seine, unweit von Paris, geboren.
Er hat dann studiert, zunächst an der Ecole Nationale des Beaux Arts in Dijon Architektur, Design und Malerei.
In den 60er Jahren gibt es eine tiefe Zäsur in seinem Leben, eine Zäsur,
die sein ganzes weiteres, auch künstlerisches Leben, bestimmen sollte.
Er ging nach Deutschland und schloss für kurze Zeit in München ein weiteres Studium an,
- an der Akademie der Bildenden Künste in München.
Wenn man sich einmal die Situation vergegenwärtigt,
in der sich damals die Münchener Akademie befand, genau in der 68er Zeit,
kann man sich keinen größeren Gegensatz
zu der relativ stabilisierten Situation in Dijon vorstellen.
Dort, während seines Studiums in Dijon,
waren die großen Sterne der klassischen Moderne wie Picasso und Braque
noch die beherrschenden Figuren, die auch die Ausbildung an der Akademie bestimmten.
In München sah die Situation völlig anders aus.
In München hatte man, wie im süddeutschen Raum überhaupt,
auf der einen Seite noch eine ganz traditionelle bildende Kunst,
auf der anderen Seite eine sehr starke Verunsicherung,
eine Verunsicherung, die so weit ging, dass sie einem jungen suchenden Künstler
wenig Orientierungshilfe zu bieten in der Lage war.

Bernard Boissel hat dann in verschiedenen Klassen studiert - denjenigen unter Ihnen,
die ein wenig mehr mit der Münchener Nachkriegskunstgeschichte vertraut sind,
werden die Namen etwas sagen -  u. a. in den Klassen von Fruhtrunk und Oberberger.
Aber das waren mehr geistige Orientierungsversuche.
In seiner Malerei war er, wie die meisten jungen Leute, gezwungen,
sich seinen eigenen, ganz spezifischen,
auf seine künstlerische Persönlichkeit bezogenen Weg zu finden.
Er begann damit, dass er in den 70er Jahren im Wesentlichen
sehr stark reduzierte Papierarbeiten gemacht hat.
Ungefähr seit 1975 entstanden die Vorstufen der späteren Serien,
der Serien der Malerei auf Leinwand, von denen Sie hier einige Repräsentanten sehen.
Was bedeutet das, Repräsentanten? In dieser - gemessen an dem umfangreichen Werk,
auf das Bernard Boissel zurückschauen kann – relativ kleinen Ausstellung,
repräsentieren die hier ausgestellten Bilder einen Zeitraum von ungefähr zwei Jahrzehnten.
Sie sind strikt chronologisch gehängt.
Rechts von mir beginnend mit dem frühesten Bild in dieser Zeitabfolge
und endend auf dieser Wand mit dem letzten Bild,
das vor ganz kurzer Zeit entstanden ist und dessen Farbe kaum getrocknet ist.
In Intervallen von 4 – 5 Jahren sind hier Repräsentanten von großen,
zum Teil sehr großen Bilderserien herausgegriffen worden,
das heißt nicht, dass damit nur die allerbedeutendsten,
die allerwichtigsten Bilder dieser Serien als Repräsentanten für andere stehen,
nur so viel, dass sie charakteristische Elemente enthalten,
die genau für diese Schaffensphasen wichtig sind.
Wenn Sie sich einmal die Einladungskarte genauer anschauen,
finden Sie schon alle wesentlichen Elemente dieser Präsentation.
Der Titel „Einatmen  und Ausatmen“ schildert präzise,
worum es sich bei dieser Ausstellung handelt.
Dann haben wir die drei Grundfarben Gelb, Rot und Blau,
und diese Farben und deren Aufbringung auf der Leinwand
sind das zweite große Thema der Ausstellung.
„Einatmen und Ausatmen“ steht in einem doppelten Sinne für diese Ausstellung.
In einem doppelten Sinne derart,
weil sich im Werk von Bernard Boissel über einen großen Zeitraum
von zwei Jahrzehnten eine Art von zyklischer Bewegung vollzogen hat,
eine zyklische Bewegung von Explosionen und Implosionen auf der Leinwand.
„Einatmen und Ausatmen“ bezieht sich aber nicht nur auf den großen zeitlichen Rahmen, sondern auch auf das Einzelwerk.
Das „Einatmen und Ausatmen“
ist zu einer treffenden Metapher für den gleichsam choreographischen Vorgang
der Arbeit auf der Leinwand geworden.
 
Vor drei Jahren gab es eine wichtige Ausstellung von Bernard Boissel
im Deutschen Museum, in einer wunderbaren Raumsituation,
in einer riesigen, leer geräumten Halle.
Damals hat der Berliner Museumsdirektor Jochen Boberg
eine eindrucksvolle Laudatio gehalten auf das Werk von Bernard Boissel.
Er hat den Bogen ganz weit gespannt.
Er hat angefangen beim Neolithikum
und ist in einem kühnen Sprung bis zu Kunst der Gegenwart gekommen.
Soweit will ich den Bogen nicht spannen und mich stattdessen
auf einige wenige Bemerkungen zu den ausgestellten Arbeiten beschränken.

Die Bilder Boissels besitzen Kraftfelder und Leerstellen,
hochkonzentrierte Farbballungen und Ruhezonen,
in denen die Farbspuren zu verglimmen scheinen.
Aus diesen Wechselspielen
 von Räumen und Zwischenräumen erwächst die Spannung der Bilder.
Dieses Konzept rhythmischer Bewegung verlangt geradezu nach reinen,
ungemischten Farben.
Wenn Sie genauer auf die Leinwand schauen, werden Sie sehen,
dass hier immer reine Farben verwendet wurden,
dass die Farbmischung, die subtraktive Farbmischung,
auf der Leinwand selbst stattfindet -
natürlich in ganz unterschiedlichen Formen.

Am Ende des malerischen Prozesses entstehen Bilder,
die weder Botschaften transportieren,
noch als Chiffren für seelische Zustände gelesen werden können.
Mehrfach schon sind Boissels Bilder mit physikalischen Vorgängen
und mikro- bzw. makrokosmischen Welten verglichen worden.
Diese Vergleiche beruhen zweifellos darauf, dass seine Bilder,
obwohl sie sich der Natur in keiner Weise mimetisch annähern,
soweit vom Zwang willkürlicher ästhetischer Regeln befreit sind,
dass wir ihren Rhythmus gleichsam als natürlich empfinden.
So natürlich und unprätentiös erscheinen diese Tafeln,
als habe der Pinsel die Bewegungen des Einatmens und des Ausatmens nachgezeichnet.
 
Zwei Themen, habe ich gesagt, dominieren diese Ausstellung.
Um sich ihnen zu nähern, bedarf es des richtigen Betrachterstandpunkts.
Wie finde ich zu einem richtigen Betrachterstandpunkt vor den Boisselschen Bildern?
In der klassischen Kunst, d. h. in der Tafelmalerei, sagen wir nach 1430,
war dies kein Problem, sofern es sich um eine, zumindest angestrebte,
zentralperspektivische Darstellung handelte.
Wir müssten nur den Punkt finden, der von der Bildebene ebenso weit entfernt ist,
wie der virtuelle Fluchtpunkt sich auf der Tafel von der Bildebene entfernt befindet.
Spätestens seit Cézanne ist das nicht mehr möglich.
Wir müssen unseren eigenen subjektiven Standpunkt finden.
Wir müssen uns selbst im Dialog mit dem Bild einen eigenen Standpunkt erobern.

Das zweite große Thema ist die Farbe.
Und hier sind wir im Wesentlichen auf Metaphern angewiesen.
Metaphern, an denen die deutsche Sprache relativ arm ist.
Im Vergleich zu anderen Sprachen
können wir nur auf einen vergleichsweise geringen Vorrat an Sprachbildern zurückgreifen.
In anderen Sprachen, wie dem Chinesischen, habe ich gelesen,
gibt es zum Beispiel für die Farbe Rot eine Vielzahl sehr unterschiedlicher,
sehr differenzierter metaphorischer Ausdrücke.
Ein bestimmtes Rot hat beispielsweise die Bezeichnung „Flügel eines singenden Vogels“.
Versuchen Sie mal, dieses Rot auf den Boisselschen Bildern wiederzufinden.
Eine andere Rotnuance trägt im Chinesischen die Bezeichnung
„Morgendämmer über den Bergen des ewigen Friedens“.
Aber auch die Muttersprache des Künstlers, das Französische,
besitzt eine viel reichere metaphorische Ausdruckskraft als unser gegenwärtiges Deutsch.
Da gibt es zum Beispiel einen Ausdruck für ein bestimmtes Gelb
„l´ époux jaloux“, den eifersüchtigen Gatten,
oder ein mattes Blau, das „bleu mourant“ genannt wird.

Am Ende dieser kleinen Bilderreihe,
die im Leben des Künstlers einen langen Zeitraum umfasst,
steht diese Tafel rechts von mir, die insofern etwas unglücklich platziert ist,
weil sie den falschen Hintergrund hat.
Eigentlich müsste die Tafel auf einem weißen Hintergrund stehen,
denn auf diese Weise, schwarz gerahmt durch den Hintergrund,
erhält sie den Charakter von etwas Besonderem, einer Preziose,
einer besonderen, gerahmten Kostbarkeit.
Das ist nicht im Sinne des Künstlers.
Ein weißer Hintergrund, der mit dem Weiß des Bildgrundes verschmelzen würde,
würde genau seiner Intention entsprechen.
Der Intention, dass die Bewegung des Ein- und Ausatmens,
die hier mit Hilfe der Farbe stattgefunden hat, nur ein Ausschnitt ist,
eine Momentaufnahme aus einem weitaus größeren Vorgang,
der vorn und hinten nicht begrenzt ist, aus dem ein Bildausschnitt gefunden wurde.
Durch die schwarze „Rahmung“ bekommt das Bild eine Herausgehobenheit,
eine Besonderheit, eine Spezifität, die nicht der Absicht des Künstlers entspricht.
Trotzdem finde ich es wichtig,
dass diese Tafel – ein mir besonders gelungen erscheinendes Bild - hier hängt
und diesen „Repräsentantenzyklus“ beschließt.

Alle weiteren Versuche der Bildentdeckung,
-deutung und möglichen Einordnung muss ich nun Ihnen selbst
und Ihren eigenen Assoziationen überlassen.
Der Künstler wird Ihnen dabei sicher gern behilflich sein.

© Prof. Dr. Andreas Kühne