Laudatio für Bernard Boissel
von Elmar Zorn im Kulturzentrum-Garching, am 26. Oktober 2000


Noch eine Ausstellung! Gibt es denn nicht genug?
Gibt es nicht genug bunte Bilder, geschickt oder gefällig arrangiert?
Warum also stehen wir hier zusammen in diesem Bürgerhaus?
Sehen wir nicht lediglich das, was wir sowieso schon kennen,
wie uns die Wahrnehmungspsychologen immer mehr klarmachen wollen?
Meine Antwort ist: ja, es gibt genug Ausstellungen, eigentlich viel zu viele.
Ja, wir sehen zu viele Bilder,
können uns vor diesem Bilderschlamm gar nicht wehren,
sollten wohl eher die Augen schließen und besser Musik hören.
Und natürlich sehen wir erst einmal das,
was die meisten intus haben und wiedererkennen wollen.
Und doch sind wir zusammengekommen, weil wir alle, erstens,
ganz einfach neugierig sind – ein absolut unstillbares Verlangen
des intelligenten und sinnlich empfänglichen Menschen – und dann zweitens,
weil wir vielleicht eine Erwartung, eine Hoffnung, eine Sehnsucht
nach etwas völlig anderem haben – also über die herkömmliche Neugier hinaus,
die ja kommunikationstechnisch wieder Rückbindung
und Affirmation des Bekannten bedeutet:
Die Empfänglichkeit für das Unerhörte, Ungesehene, Unbekannte also,
diesen Abenteuer- und Pioniersinn haben wir uns offensichtlich
in der Menschheitsgeschichte erhalten können.

Den Vorgang, der solch bis dahin Ungeschehenes, Ungedachtes erstehen lässt,
nennen wir Kreativität, also die Fähigkeit, aus uns selber heraus zu schöpfen
und etwas zu schaffen – eine Fähigkeit, die wir als eine göttliche eingestuft haben:
der Mensch ist in dieser Eigenschaft
als kleiner Schöpfer verbunden mit der großen Schöpfung,
ob wir sie Gott nennen oder Natura naturans, also die aus sich heraus,
immer wieder neu gebärende Schöpfung.
Wenn ich ein Buch schreiben müsste über dieses Phänomen des Kreierens,
wie es sich darstellt als Akt der Analyse und der Synthese,
ich könnte mir keine bessere Illustration für die Darlegung vorstellen,
als die Werke von Bernard Boissel.
Seit über 20 Jahren spürt er den Chaos- und Ordnungsprinzipien bildnerischer Phantasie
im Medium der Malerei, von Farbe und Strich auf der Leinwand,
nach, mit einer Radikalität, Konzentration und Intensität,
wie sie in der Geschichte der zeitgenössischen Malerei vielleicht sicherlich
nicht oft aufgetreten ist.
Es gibt obsessive Maler – denken wir an die geballten Malakte von Jackson Pollock,
wenn er die Farbe auf der Leinwand verstreute.
Oder es gibt Maler, die sich dem Exerzitium der Wiederholung
als einem Grundprinzip der Schöpfung hingeben, wie Roman Opalka.
Bei Boissel hat beides, die obsessive Wiederholung des Experiments,
aus einem unentwirrten Knoten von Farbe
und Strich auf der Leinwand einzelne Elemente zu befreien,
geradezu eine spannende Entwicklungsgeschichte,
eine Evolution der Gestaltbarkeit, dieser gefangenen Elemente. 
Die Ergebnisse der nunmehr Jahrzehnte langen Auseinandersetzung.
sehen wir heute in dieser kleinen Ausstellung freilich nicht.
Die Entwicklung war aber gut zu verfolgen bei einem Geniestreich,
den Boissel im Deutschen Museum vor drei Jahren wagte.
Da war für ein Wochenende in einer riesigen, wegen Umbau vorübergehend leeren Halle,
eine lückenlose Kette von Werken aufgebaut, die Bild für Bild,
Leinwand für Leinwand, in einem Spaziergang abgelaufen werden konnte.
Der Gang wurde zum Nachvollzug eines exemplarischen Vorgangs,
wie aus der Implosion aller Gestalt und aller Farbe die Entfaltung,
Spezifizierung und schließlich Explosion
in verschiedensten Mustern zentripetaler Ausbreitung eine eigene Welt sich konstituiert,
die in den Köpfen der Betrachter vergleichbare Wahrnehmungsvorgänge
und Wahrnehmungsspiele von Farbe und Form auslöst.
Der den ungewöhnlichen Spaziergang durch die Geschichte der Werke
des Malers Bernard Boissel als Geschichte der Entstehung eines eigenes Stils,
schließlich gewissermaßen als Geschichte der Entstehung von Malerei moderiert hat,
war einer der brillantesten.



Kunsthistoriker Deutschlands,
der in Berlin als Direktor der Museumsdienste des Senats tätige und lehrende Jochen Boberg.
Ganz anders als diese enorme,
letztlich in ihre weitgehende Enthüllung seiner Methode
für den Künstler auch gefährliche Ausstellung im Deutschen Museum
stellt sich diese Präsentation heute dar.
Und doch ist eine kleine Evolution in der Präsentation ablesbar,
eine spannungsvolle und für den Künstler bezeichnende.
Wenn Sie die hier ausgestellten Werke untereinander vergleichen
und hierfür von links nach rechts Ihre Augen wandern lassen,
werden Sie mitverfolgen können,
dass es in der Pinselführung des breiten Pinsels von Bild zu Bild
sozusagen ein Einatmen und ein Ausatmen gibt.
Von der ersten Leinwand, in der eine Bewegung nach innen zu sehen ist,
über das bunte Durchkreuzen vieler Farb-und Formgebungen,
geht dann die Bewegung zu zwei Lagern,
darauf einer starken Verstreuung der feinen Pinselstriche von der Bildmitte weg,
dem die ebenfalls wegstrebenden breiten Pinselstriche folgen,
bis zur nahezu vollständigen Auflösung und Abhebung der Striche von der Leinwand,
die fast nicht mehr berührt wird.
Auffällig an all den Einzelbildern des Zyklus
ist die souveräne Beherrschung der Fläche in Farbe und Strich.
Wer die Entwicklung des Künstlers mitverfolgt hat,
würde sogar weitergehen und von einer Befreiung der Farbe hin
zu dem heutigen gelösten Auftritt auf der Fläche sprechen,
eine Befreiung aus der Dichtheit und Verstrickung der Farbknoten,
die sich vermischten zur freien und ungemischten Farbmanifestation.
Aber auch wer das frühere durchaus aufregende
und wertvolle Schaffen von Bernard Boissel nicht vor Augen hat,
spürt vielleicht diese befreiende Emotion, dieses freie Leuchten der Farben.
Es wäre jedoch ein Irrtum, diese Befreiung, diese Freiheit für Willkürlichkeit zu halten.
Alles ist genau, geradezu mathematisch berechnet,
Abweichungen dürfen nur im Millimeterbereich passieren.
Das ist ja gerade das Ergebnis des Exerzitiums von 20 Jahren,
dass die millionenfache eingeübte Bewegung zu einer Meisterschaft führt,
die vergleichbar der der großen chinesischen Kalligraphen ist
oder der hohen Kunst des Bogenschießens,
um bei den manuell-geistigen Fertigkeiten zu bleiben.
Boissel sagt konsequenterweise „ Jeder Strich muss sitzen.
Ich kann mir keinen Fehler leisten.“
In dieser Zeitspanne von so vielen Jahren – und das ist das natürlich-organische,
eben nicht nur mathematische
an seiner Disziplin – hat die Art der Handbewegung des Künstlers sich natürlich geändert.
Gewisse Schlenker und Haltungen hat er verlernt, kann sie gar nicht mehr rekonstruieren,
andere kommen jedoch hinzu.
Ein erfreulich lebendiger Sachverhalt also und ein mögliches Bollwerk gegen den Glauben,
dass Computer die Hand bei der Fertigung von Kunstwerken ersetzen könnten.
Wie geht es nun weiter bei diesem Künstler, der immer wieder von neuem
an die Grenzen der Wahrnehmung und Erfahrung von Form und Farben
in der Raumzeit des Schaffensprozesses kommen wollte
und auch (nachvollziehbar) gekommen ist, um auszuloten was hinter dieser Leinwand,
dieser Raumzeitfokussierung sich verbirgt?
Nach den bisherigen Abenteuern der Kunstproduktion – und Abenteuer
war es für ihn immer – sowohl im existentiellen als auch im künstlerischen Sich-Behaupten – wenn Namen wie Kandinsky, Mirò, Twombly, Pollock ihm einen Vergleichshorizont
und Maßstab errichtet haben – werden es sicherlich neue
Zeit- und Raum-, Form- und Farbabenteuer sein,
denn dieser Künstler, der sich so lange Zeit gelassen hat,
seine Implosionen auf der Leinwand in Explosionen umzulenken,
hat eine so unglaubliche Dynamik in seinem Strich,
dass der Bogen noch oft gespannt werden kann,
mit dem er seine Farb- und Formpfeile auf die Leinwand schießt.
Ganz sicher wird es also spannend sein, Boissels weitere Experimente zu verfolgen.



Also, doch weitere Ausstellungen, noch mehr Kataloge?
Die Antwort ist: in diesem Fall, unbedingt.
Wenn man auf 90% der Präsentationen im derzeitigem Ausstellungsbetrieb verzichten kann – und ich hatte gerade letzte Woche wieder Gelegenheit
diese Ansicht beim Gang durch die New Yorker Galerien bestätigt zu sehen – auf
einige wenige Künstler, die,
die Sinne zu öffnen und den ganzen gesammelten Bilderschrott
in unseren Köpfen wegzublasen imstande sind,
wie Boissel, möchte ich in Zukunft nicht verzichten und ich wurde mich freuen,
wenn es Ihnen ähnlich geht.
Ein Kompliment zum Schluss an den Chef des Hauses,
Wolfgang Windisch, der den Mut hatte,
einen außergewöhnlichen Künstler hier in Garching vorzustellen,
und dem diese schöne Ausstellung in seiner Wahl Recht
gibt, etwas Neues auszuprobieren.

Ich danke Ihnen.

© Dr. Elmar Zorn